Ein Ultra-Trailrunning-Abenteuer quer über Europas größte Hochebene!
Warum Trailrunning?
Trailrunning (früher nannte man es Geländelauf) ist der Lauftrend der letzten Jahre. Als langjähriger Orientierungsläufer freut mich das. Immer mehr Läufer entdecken das abwechslungsreihe Laufen abseits der befestigten Wege. Je schmaler die Trampelpfade desto besser.
Warum Ultra?
Auch ultralange Strecken (alles länger als Marathon) erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Meist stehen dabei nicht Wunsch-Zielzeiten im Vordergrund, sondern das Ankommen. Als Leichtathlet habe ich mich stets über Zeiten definiert. Da ich jedoch kein strukturiertes und regelmäßiges Training umsetzen kann, sind meine Wunschzeiten auf den klassischen Laufstrecken erstmal in weiter Ferne entschwunden. Meine durchschnittlichen 30 bis 50 Wochentrainingskilometer sind sicher auch nicht ideal für eine Ultradistanz. Aber Ultra ist wie ein langer Trainingslauf im extensiven Grundlagenausdauerbereich. Nur, dass man immer weiter läuft und nicht aufhört bis man angekommmen ist.
Warum Norwegen?
Ein Großteil der europäischen Trailszene spielt sich in den Alpen ab. Steile Berge, tiefe Täler. Ich mag die skandinavischen Hochebenen. Den weiten Blick in alle Richtungen.
Beim Wandern im Sommer 2014 am Nordrand der Hardangervidda bin ich in einem norwegischen Outdoor-Magazin über eine Laufanzeige gestolpert. X-Reid. Ultratrail! Nur leider schon eine Woche vorbei. Zurück aus dem Urlaub wurde recherchiert. Termin 2015, Anmeldefrist und so weiter. Limitiert ist das Feld auf 100 Starter, nachweisen musste man seine Ultrarunning-Eignung und die Fähigkeit sich mit Karte und GPS orientieren zu können. Als Orientierungsläufer, Kartographie- und GIS-Ingenieur kein Problem. Ich kann laufen und werde nicht verloren gehen. Das war auch mein letzter Satz bei der Bewerbung um einen Startplatz.
Und Januar 2015 war es raus. Ich bin mit dabei. Hardangervidda, 128km und 4200 Höhenmeter, ich komme!
Um halbwegs gezielt zu trainieren wurden Vorbereitungswettkämpfe geplant. Zum Beispiel der 12h-Trail Hillymandscharo, 80km beim Eco-Trail in Paris und die 24h-Orientierungslauf-Staffel.
Vier Wochen vor dem Start gab es nochmal detaillierte Infos und die Nachricht: Schnee! Der späte Winter mit viel Schneefall war Ende Mai immer noch deutlich zu sehen. Weite weisse Flächen. Eine Woche vorher Entwarnung. Die langen Tage und milde Temperaturen haben ganze Arbeit geleistet. Aber irgendwo muss der ganze Schnee ja hin. Daher folgte die nächste Info: besonders auf der ersten Streckenhälfte viel Wasser, kaltes Wasser und Mücken!
Drei Tage vor dem Event reiste ich an. Während Deutschland in der ersten Juliwoche unter 35 Grad zerschmilzt, war es auch in Norwegen sehr sommerlich. Nur wenig Wolken und gut über 20 Grad. Zwei Tage Wandern mit Zelt zur Einstimmung musste sein. Nahezu ideales Wetter. Trocken, Warm. So hat man es in Norwegen selten. Die Gegend um Geilo (!) und dem Startort Ustaoset kannte ich teilweise aus dem letztem Jahr. Daher musste es am zweiten Wandertag sein. Einmal hoch an den Rand des Fjell (Hochebene). WOW! Grandioser Rundumblick. Im Süden konnte man deutlich den Gastatoppen sehen. Den Zielort, über 100km entfernt.
Bei der Registrierung gab es drei Dropbags für die persönliche Ausrüstung an den Checkpoints bei Kilometer 77, 114 und dem Ziel. Und einen GPS-Tracker. So kann nicht nur aus Sicherheitsgründen der Veranstalter im Notfall die Position orten, sondern auch weltweit jeder online die Position jedes Läufers verfolgen.
Die Stimmung vor dem Start war ruhig. Lockere Gespräche, letzte Vorbereitungen, keine Hektik, der Himmel bedeckt aber um die 20 Grad warm. Mit dem Startschuss am Freitag um Punkt 12 Uhr setzte sich nicht nur die Läuferschar bergauf in Bewegung, sondern der Himmel riss auf, die Sonne lachte und würde es auch den Rest des Tages aus vollen Kräfte tun.
Die Erste halbe Stunde ging es bergauf bis an den Rand der Hardangervidda. Nur die vorderen Läufer liefen, der Rest folgte im schnellen Schritt im Gänsemarsch, einer hinter dem anderen. Im flacher werdenden Teil wurden erstmals längere Stücke gelaufen. Immer wieder unterbrochen von ruppigen Passagen mit größeren Steinen, in denen kaum ein Laufthythmus zu finden war, oder sumpfigen Abschnitten bei denen man anfangs noch versuchte mit trockenen Schuhen vorbei zu kommen.
Und da war er, der weite Blick über die Hochebene. Keine Wolke mehr, freie Sicht, Sonne satt und eine frische Briese zur Abkühlung. Hinter jedem Hügel fiel der Blick in ein anderes Tal, hinter jedem Tal folgte ein neuer Hügel. So ging es stets leicht bergauf, bergab, immer weiter über das Fjell.
Schon in der zweiten Stunde war klar, dass ich meine geschätzte Zeit kaum halten kann. Die Strecke, die den Wanderwegen folgte, war anspruchsvoll. Passagen in denen man ein längeres Stück problemlos laufen konnte, waren kaum zu finden. Immer wieder war der Weg sehr steinig, so daß das Laufen eher einem Springen von Stein zu Stein glich und viel Kraft verbrauchte. Die Laufstöcke, die ich eigentlich nur für die Bergaufpassagen benutzen wollte, habe ich daher die gesamte Strecke nicht mehr aus den Händen genommen. Sie hielten den Körper stabil, vereinfachten die Balance und sparten somit Kraft und vor allem auch Belastungen, besonders der Knie. Die Laufanteile wurden von Stunde zu Stunde geringer und die Gehanteile immer größer.
15 Uhr – Stunde 3 – km 19
Bei 130 Läufern (davon nur 10 Ausländer und ein Deutscher), verteilt auf 90 Teams oder Einzelstarter, zog sich das Feld schnell in die Länge. Den ersten Checkpoint erreichte ich nach über 5 Stunden – für ca. 33 km! Die Checkpoints lagen jeweils an den Wanderhütten. Verpflegt wurde unter anderem mit Gemüsesuppe, Brot, Käse, Wurst, Chips, Obst, Getränken (alles andere musste selber mitgebracht werden). Mein Aufenthalt an den Checkpoints ist erfahrungsgemäß eher kurz. Soviel essen (und Essen mitnehmen) wie nötig. Gegebenenfalls ein wenig dehnen, mobilisieren, eincremen oder sonstwie versorgen und dann aber auch schnell weiter. Positiv in Norwegen: Wasser gibt es fast überall. Flasche rein in den Bach und direkt trinken – kleiner Nachteil: aufgrund der Schneeschmelze ein wenig kalt – das verträgt der Magen unter Belastung auch nicht so gut.
Und der Schnee? Halb so wild. Nur noch wenig Schneefelder, die dann zwar ein wenig rutschig waren, aber oft besser zu belaufen als die Wege.
Und das Schmelzwasser? Ab der ersten Stunden waren die Füße eigentlich durchgängig nass. Immer wenn man gerade dachte man hätte die Schuhe und Socken trocken gelaufen, ging es wieder rein ins Wasser. Entweder quer über einen größeren Bach (knietief), durch morastige Abschnitte oder auch einfach “nur“ durch Schmelzwasser, dass munter die Wege entlanglief.
Und die Sonne? Wollte keine Pause machen. Da kurz vor dem Start ja noch der Himmel bedeckt war und ich mich nur noch notdürftig im Gesicht eingeschmiert hatte, machten sich besonders die Oberschenkel mit einer deutlichen Färbung bemerkbar. Und die Prognose für den folgenden Tag war auch klar. Noch mehr Sonne.
Und die Mücken? Mit einsetzender Dämmerung und weniger Wind, wurden sie immer mehr. Auf dem Weg zum zweiten Checkpoint bei km 56 haben mich die Mücken nicht einfach nur gestochen, sie haben mich förmlich aufgefressen. Keine Chance schneller zu sein, keine Chance sich zu wehren. Erste Massnahme am Checkpoint: Mückenspray – dick und überall.
Auf dem weiteren Weg passierte ich gemeinsam mit einem norwegischen Team gegen Mitternacht die Streckenhälfte. Bergfest! Es wurde dann auch trotz Vollmond merklich dunkler und um ein wenig mehr Kontrast in dem Steinedschungel zu haben, wurde die Stirnlampe ausgepackt. Keine Stunde später hab ich sie wieder ausgeschaltet, da mit aufkommenden Nebel die Reflexion wiederum zu groß war. Ich überholte ein paar Läufer, die alle mit Knieproblemen nur noch langsam unterwegs waren. Die Strecke forderte hier schon ihre Opfer (von 90 Startern/Teams erreichten 21 nicht das Ziel).
Meinen ersten Dropbag bei km 77 erreichte ich nach 14 Stunden – mittlerweile schon drei Stunden hinter meinem Zeitplan. Raus aus dem salzverkrustetem Shirt, rein in eine lange Lauftight, rein in saubere Socken – die Kombination von Merino und Wundsalbe hat bisher die Füße blasenfrei gehalten. Ein wenig futtern und weiter – noch 50 Kilometer.
Die nächsten 13 km war zur Abwechslung mal Schotterpiste angesagt. Der Versuch in das Laufen einzusteigen war jedoch nicht von Dauer. Es fehlte mittlerweile die Kraft, auf ebener Strecke einen sauberen Laufschritt hinzubekommen, und der flotte Nordic-Walking-Schritt war kaum langsamer. Als ich am Ende der Schotterpiste wieder in die Wildnis eintauchte, war der Sieger gerade nach 16 Stunden ins Ziel gelaufen.
Die Nacht war frisch, aber auch kurz. Der Hochnebel verlor den Kampf mit der Sonne um kurz vor 6 Uhr morgens. Da war SIE wieder da. Gnadenlos am blauen Himmel.
Und da war ER auf einmal da, der Gaustatoppen, steigt am Horizont aus dem Nebel, der Berg, das Ziel, von nun an allgegenwärtig und greifbar nah. Gegen 8 Uhr war es soweit – der Abschied von der Hochebene. Aber, vor den Aufstieg zum Ziel kam erstmal der Abstieg ins Tal. Nach unzähligen Serpentinen am Steilhang und einigen Kilometern Asphaltstraße, erreichte ich kurz vor 11 Uhr die letzte Versorgungsstation Vermork. Ein Wasserkraftwerk aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts, damals das größte der Welt, mit historischen Hintergrund. Gelegenheit nochmal alle „Systeme“ zu prüfen und sich auf die letzte Etappe vorzubereiten. Denn eins war klar. Außer Müdigkeit und fehlender Kraft gab es keinen richtig wichtigen Grund, das Rennen nicht zu beenden. Keine Gelenkschmerzen, keine wunden Stellen oder Blasen, keine Magenproblem, Schwindel, Dehydration oder sonstige limitierende Faktoren. Essen, Trinken, Sonnencreme, kurz durchschnaufen, 11 Uhr und los geht’s. Mittlerweile hatten 17 Teams oder Einzelläufer das Rennen komplett absolviert.
Die Wanderzeit von Vermork bis zum Gipfel wird mit 8 Stunden angegeben. Der Sieger brauchte 3 Stunden und 15 Minuten. Bei ungefähr 5 Stunden wäre ich als gegen 16 Uhr und insgesamt 28 Stunden Laufzeit oben (und damit 4 bis 8 Stunden länger unterwegs als meine Planung). Also nochmal 5 Stunden lagen vor mir.
Ab Vermork ging es sofort hoch. Ca. 300 Höhenmeter zickzack entlang der Wasserrohre, dafür im Wald. Danach folgten 7km flache Schotterpiste mit nur wenig Schatten und ordentlicher Hitze. Dann der Einstieg in den Wanderweg. Noch drei Stunden. Anfangs noch flach und durch den Wald aber dafür ordentlich ruppig. Auch drei größerer Steinfelder mussten bewältigt werden. Die Baumgrenze. Noch zwei Stunden. Auf der Südflanke des Berges, dafür aber mit leichten Aufwinden. Und, es fehlten immer noch 800 Höhenmeter. Ich versuchte gleichmäßig, Schritt für Schritt auf dem Trampelpfad mit ordentlich Stockeinsatz, langsam aber beständig immer weiter und weiter nach oben zu gehen. Noch eine Stunde. Das letzte große Steinfeld. Volle Konzentration. Stein für Stein wie Stufe für Stufe weiter.
Der Gaustatoppen ist ein beliebtes Ausflugsziel. Und ein militärisches Relikt des Kalten Krieges. Der Aufzug im Inneren des Berges bringt jetzt nur noch Touristen hoch und wieder runter, die den Blick über ein Sechstel Norwegens bewundern wollen. Und diese Touristen kamen mir nun auf den letzten Metern entgegen. Also vorbei an den „Zuschauern“, die letzten Meter durch den Zielbogen und dann nochmal ein paar Stufen hoch bis zur Ziellinie. Berghütte Gaustatoppen, 1860 Meter hoch, nach 128 Kilometern Trail, nach 28 Stunden und 40 Minuten. Oben. Fertig. Glücklich.