Mein schwerer Weg zum Laufen

Januar 2015. Es ist gleich 17 Uhr und ich verlasse das Haus. Ich habe gewartet, bis es wirklich dunkel ist, denn ich möchte nicht gesehen werden. Ein Gedanke, der mich heute sehr traurig stimmt, aber ich kann es leider nicht mehr ändern. Es ist kalt und windig und es nieselt, also so ein richtiges Scheißwetter, aber mir gerade recht, denn die Chance, jemandem zu begegnen, wird dadurch noch mehr gemindert.

Sarah im Oktober 2014; selbst der kleinste Spaziergang war anstrengend.

Zu Weihnachten habe ich einen Schrittzähler bekommen und ich habe eine Mission: 6000 Schritte gehen. Jeden Tag. Eine echte Herausforderung, denn ich wiege zu dem Zeitpunkt noch weit über 100 Kilo. Ich bin 31 Jahre alt, habe vor zwei Monaten die Diagnoses Diabetes Typ 2 erhalten, Bluthochdruck und Hashimoto. An den ersten beiden Erkrankungen bin ich selber Schuld. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Ausreden suchen, und deshalb weiß ich, dass ich mich da auch selber aus dem Schlamassel wieder raus manövrieren muss. Jeden Tag 6000 Schritte. Bewegung ist gesund. Klingt nach einem Plan.

Mein Höchstgewicht lag bei genau 123,9 Kilogramm auf 170 cm Körpergröße und mein größtes Problem sind meine schmerzenden Füße und Gelenke. Unsere Zwillinge, sie wurden im Juli 2013 geboren, halten mich ziemlich auf trab – sofern man meine Bewegungsabläufe so nennen kann. Wenn ich am Abend auf der Couch sitze, dann kann ich nur unter großen Schmerzen überhaupt wieder aufstehen. Ich weiß, es gibt viele fitte und bewegliche übergewichtige Menschen – ich gehörte leider nicht dazu. Mir tun meine Füße weh, sobald ich auf ihnen stehe. Ich habe recht kleine Füße und schmale Gelenke, manchmal glaube ich, dass mein Körper für Übergewicht nicht gemacht ist und für mein enormes Übergewicht erst recht nicht.

Zurück zum Friedhof. Ja genau, ich gehe meine 6000 Schritte im Dunkeln, bei Regen auf dem Friedhof. Falls sich jetzt jemand fragt, ob ich denn keine Angst hatte: Nein! Also nicht vor Untoten oder so. Nicht vor jemandem, der mich überfallen könnte. Ich hatte nur Angst vor normalen, lebenden Menschen, Nachbarn z. B. – buh! Deshalb ist der Friedhof im Dunkeln bei Regen ein sehr sicherer Ort – ich fühle mich quasi dreifach abgesichert. Ich finde es übrigens peinlich. Peinlich, bei körperlicher Aktivität gesehen zu werden, und irgendwie finde ich es noch peinlicher, dass es mir peinlich ist. Verrückt.

Die 6000 Schritte sind die absolute Obergrenze für mich. Selbst wenn ich sie verteilt über den Tag gehe und auch die normale Aktivität im Haus zählt: mehr schaffe ich nicht. Hätte mir zu diesem Zeitpunkt jemand gesagt, ich solle doch Sport machen, am besten noch in einem öffentlichen und hell beleuchteten Fitnessstudio – ich wäre einem Nervenzusammenbruch vermutlich nur ganz knapp entkommen.

Sarah im Januar 2015; Schrittzähler an den Kragen geklemmt und schon fast 20 kg leichter.

6000 Schritte. Ich bin am Limit. Denke ich zumindest. Bis ich da einen Impuls verspüre, den Impuls einfach “los zu rennen”. Und ich gebe dem nach. Und ich rutsche nicht aus in der Matsche und ich falle auch nicht hin und auch meine Gelenke brechen nicht durch. Und es sind vielleicht nur ein paar Meter, die ich renne, aber in diesem Moment ist etwas passiert, etwas was mich unbeschreiblich glücklich macht und mir einen Hauch von dem verspricht, was noch kommen soll. Ich lächle, denn ich habe einen Entschluss gefasst: Ich werde irgendwann einen Marathon laufen. 

Dieser Gedanke fühlt sich so richtig und zugleich so absurd an, dass ich ihn vorerst nur für mich behalte. Ich habe keinen Plan vom Laufen, von Sport allgemein nicht, aber ich habe ein Ziel. Und das ist in diesem Moment viel wichtiger.

Sarah Linda Gall

Sarah war nie sportbegeistert und schon beim Schulsport um keine Ausrede verlegen, um nicht teilnehmen zu müssen. Mit 31 Jahren wog sie 124 Kilo, hatte Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck. Sie schaffte es, sich fast zu halbieren und fasste den Entschluss, irgendwann einen Marathon zu laufen. Inzwischen hat Sarah viele tausend Laufkilometer hinter sich, jede Menge Erfahrung gesammelt und ist davon überzeugt, dass jeder laufen kann und auch sollte.

5 Gedanken zu „Mein schwerer Weg zum Laufen“

  1. Ich bewundere dich derart, unbeschreiblich. Abnehmen ja, aber dann das Gewicht halten. Habe letzten Frühling 16kg abgenommen. In den Ferien wieder unkontrolloliert gegessen, ok 3kg. Mehrt. Nun Weihnachten und Schokolade. D.h. ich habe wieder 12 kg zugenommen. Das geht nur immer so. Seit heute bin ich wieder im Plan und Kirche endlich, dass mein Hirn das auch schnallt. Gruss aus der Schweiz, Cornelia

    1. Irgendwie berührt mich das sehr. Diesen Moment der dein Leben verändert hat hier zu lesen.
      Ich erinnere mich an meinen Moment. Mein erstes kleines Workout im Kinderzimmer meines Jüngsten, während er gerade 10 Monate alt ist und ein Nickerchen hält. Ich glaube 9 Minuten später lag ich völlig erschöpft auf dem Boden und war so stolz auf mich. Ich wusste das war der Anfang, ab jetzt höre ich nie wieder auf.
      …. Ich habe mein Wort gehalten. Ich bin mittlerweile Bodyweight Athletin und laufe dieses Jahr meinen ersten Halbmarathon.
      Never give up

  2. Hi,
    das was du schreibst kommt mir so bekannt vor, zwar war es kein Friedhof, aber doch ein Industriegebiet nach Feierabend im Dunklen. Bloß nicht gesehen werden. Erschreckend was einen so beschränken kann im eigenen Kopf. Dabei gewinnt doch jeder, der sich bewegt, gegen den, der auf dem Sofa bleibt😉

  3. Deine Geschichte ist so unglaublich toll und mit viel Humor geschrieben, auch wenn sie eigentlich traurig ist. Du bist ein Riesen Vorbild für ganz viele. Ich bewundere Dich. Danke, dass du deine Geschichte mit uns teilst

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