Am Wochenende war ein Umzug angesagt und dank Corona musste der in sehr kleinem Kreis stattfinden. So begab es sich, dass diesmal auch Sarah, meine Frau, beim Helfen dabei war, anstatt wie sonst bei solchen Gelegenheiten einen (zumindest körperlich) vergleichsweise unangestrengten Nachmittag mit unseren beiden Siebenjährigen zu verbringen.
Ich hatte schon Wochen vorher im gleichen Haus bei einem Umzug geholfen und wusste, was auf mich zukommen würde. Vier Treppen hoch, vier Treppen runter, dutzende Kisten, Küche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, und und und.
Als Sarah sich dann bereit erklärte, gerne die Wege auf der Treppe zu übernehmen, war ich doch etwas überrascht. Als sie kurz darauf sagte, dass sie das in ihrer Uhr als Treppentraining verbucht hatte und bei einer kurzen Pause auch das Training in der Uhr pausierte, muss ich dann schon recht verwundert geguckt haben. Und während meine Beine dann etwas später immer schwerer und mein Tempo auf der Treppe immer langsamer wurde, sprang sie weiterhin mit einer Umzugskiste nach der anderen wie ein junges Reh durchs Treppenhaus. Ein kurzer Vergleich der Pulsmesser ergab: 100 bei ihr, 175 bei mir.
Bisher hatte ich Sarah lediglich beim Sport beobachtet. Als Unterstützer bei Läufen vom Rand angefeuert. Als Bewunderer über die Muskeln gestaunt, die sich immer deutlicher abzeichneten. Als Zuhörer von jeder neuen PB, jedem nächsten Ziel und jedem Wehwehchen gehört und diskutiert. Und gleichzeitig immer ungläubig den Kopf geschüttelt über die Belastung, den Schmerz und den Wettkampf mit sich selbst und anderen, den sich ein geliebter Mensch freiwillig antut.
Fitness blieb etwas abstraktes. Mir war klar, dass Sarah top-fit und gut im Training ist, und mir war klar, dass ich eher am anderen Ende des Spektrums unterwegs bin. Aber was sollte diese Selbstgeißelung nützen? Mir geht´s doch ganz gut, dachte ich?!
Am Ende des Umzugstags und im direkten Vergleich war mir dann klar, wozu das viele Training gut war. Sarah war fit und leistungsfähig und ich war nach 41 Jahren als Informatiker ohne Sport und Bewegung vermutlich am Tiefpunkt meiner körperlichen Gesundheit. Und als wenn sie diese Feststellung noch unterstreichen wollte, war Sarah dann am Tag drauf morgens ohne Probleme 20 km laufen, während ich mit Muskelkater den Rest des Sonntags wie mein 85-jähriger Vater durchs Haus schlich.
Am Abend dieses Tages begann Sarah ein Gespräch mit, “Ich sag’s einfach mal frei raus…”, und mir war sofort klar, worüber sie sprechen wollte. Sie mache sich Sorgen um meine Gesundheit, sagte sie. Ich würde weder gesund leben noch gesund essen und ich müsse etwas ändern. Sie würde mir gerne helfen, so wie ich ihr beim Abnehmen geholfen habe.
Ob die paar Tränchen, die danach kullerten, aus Angst vor dem nächsten Umzug oder vor Ergriffenheit über die Sorge meiner Frau kamen, ist nicht überliefert. Aber morgen, am 30. November 2020, gehen wir gemeinsam laufen.